You carry your prison wherever you go
- Thomas von Krafft
- 29. Juli
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Aug.

Impulse für Profis in der Berufswahl- und Karriereberatung
Von Thomas von Krafft
Wir schleppen alle einen Rucksack mit uns herum, den Rucksack unserer Sozialisation. Im Idealfall steckt er voller wunderbarer Ressourcen. Oft ist er aber auch voller toxischer Altlasten – und wir wissen es nicht einmal. Dann kann er wie ein Gefängnis wirken, aus dem wir nicht entkommen, was immer wir auch tun. Erst, wenn wir uns bewusst werden, DASS wir in einer Gefängniszelle sitzen, und WAS uns gefangen hält, können wir entkommen und endlich frei entscheiden.
1. Der „emotionale Rucksack“: Ein bekanntes Phänomen in der Wissenschaft
In der psychologischen und pädagogischen Forschung ist seit Langem bekannt, dass frühe Erfahrungen, Erziehungsmuster, Bindungserfahrungen und gesellschaftliche Botschaften unsere Entscheidungen und unser Selbstbild beeinflussen, meist unbewusst.
Häufige Phänomene sind unter anderem:
Schematherapie (Young, 1990er): Menschen entwickeln auf Basis früher Erfahrungen bestimmte „Schemata“ (z.B. das Schema „Ich bin nicht gut genug“), die später ihr Verhalten, ihre Entscheidungen und ihr Selbstwertgefühl prägen.
(Quelle: Young, J. E., Klosko, J. S., & Weishaar, M. E. (2006). Schema Therapy: A Practitioner's Guide. Guilford Press.)
Kognitive Verzerrungen (Beck, 1967): Unsere Gedanken sind häufig durch automatische, oft negative Denkmuster geprägt – sogenannte „kognitive Verzerrungen“, wie z. B. Schwarz-Weiß-Denken oder selektive Wahrnehmung.
(Quelle: Beck, A. T. (1967). Depression: Clinical, experimental, and theoretical aspects. Harper & Row.)
Soziale Prägung: Sozialpsychologische Studien zeigen, dass unsere Umwelt (Eltern, Lehrer, Medien) enorme Einflüsse auf unsere Berufswahl, unser Selbstkonzept und unser Risikoverhalten hat – oft in Form von subtilen Botschaften („Du bist nicht der Typ für ein Studium“, „Mädchen sind nicht so gut in Mathe“).
(Quelle: Bandura, A. (1977). Social Learning Theory. Prentice Hall.)
Diese inneren Muster sind wie unsichtbare Filter. Sie entscheiden mit, welche Chancen wir sehen, oder übersehen, oder falsch interpretieren, ob wir uns etwas zutrauen oder nicht, wie wir Rückschläge, Niederlagen und Ablehnung interpretieren oder ob wir Entscheidungen, z.B. über unsere Berufslaufbahn, überhaupt als „zu uns passend“ erkennen und empfinden.
2. Was alles im Rucksack steckt – wissenschaftlich belegte Perspektiven
Unser innerer „Rucksack“ ist vollgepackt mit Erfahrungen, Botschaften, erlernten Denkweisen und oft auch unbewussten Strategien. Hier fünf weitere, wissenschaftlich fundierte Konzepte, die sich in der Beratungspraxis bewährt haben, um das innere „Gefängnis“ sichtbarer zu machen:
A. Bindungserfahrungen – Wie die früheste Beziehung unsere beruflichen Entscheidungen beeinflusst
Die Bindungstheorie von John Bowlby und Mary Ainsworth zeigt eindrucksvoll, wie die Qualität unserer frühen Beziehungen unser Selbstbild und unsere Risikobereitschaft beeinflusst, und damit auch die Berufs- und Studienwahl.
Menschen mit unsicher-vermeidender Bindung meiden oft alles, was zu emotionaler Nähe oder Bewertung führen könnte. Dazu zählen auch Bewerbungen und Vorstellungsgespräche, aber auch Testverfahren und Beratungen. Fatal, denn so erlangen sie keine Selbsterkenntnis.
Menschen mit unsicher-ambivalenter Bindung schwanken stark in ihrem Selbstwert und neigen zur Überanpassung.
Beratungstipp: Wer Bindungsmuster erkennt, versteht besser, warum manche Klienten und Klientinnen nicht „ins Tun“ kommen, obwohl sie es theoretisch könnten und sie eigentlich nichts daran hindert.
(Quelle: Ainsworth, M. D. S., Blehar, M. C., Waters, E., & Wall, S. (1978). Patterns of Attachment. Hillsdale, NJ: Erlbaum.)
B. Selbstwirksamkeit – Der Glaube an sich selbst entscheidet
Meiner Ansicht nach sehr, sehr wichtig! Albert Bandura prägte den Begriff der Selbstwirksamkeitserwartung, also die Überzeugung, selbst Einfluss auf Ergebnisse zu haben. Wer sich als Kind oft als ohnmächtig oder überfordert erlebt hat, entwickelt häufig eine geringe Selbstwirksamkeit.
Typisches Beratungszeichen: „Ich würde ja, aber ich glaube nicht, dass ich das kann.“ In anderem Zusammenhang: „Was kann ich schon tun?“, oder „Ist doch völlig egal, wie ich mich verhalte?“.
Selbst bei objektiv guten Fähigkeiten zögern diese Menschen, Neues zu wagen, aus Angst zu scheitern.
Beratungstipp: Klientinnen und Kleiten in realisierbaren Schritten stärken, vergangene Erfolge bewusst machen, Blockaden gezielt aufdecken.
(Quelle: Bandura, A. (1997). Self-Efficacy: The Exercise of Control. New York: Freeman.)
C. Mindsets – Angeboren oder lernbar?
Carol Dweck unterscheidet zwei grundlegende Denkmuster: Das „Fixed Mindset“: „Ich bin halt nicht der Typ für Naturwissenschaften.“ und das „Growth Mindset“: „Ich kann das lernen, wenn ich nur dranbleibe.“
Diese inneren Haltungen werden oft in der Kindheit durch Schule, Eltern oder Noten geprägt, und bleiben in der Regel lange unreflektiert. Besonders gefährlich: Jugendliche mit tollen Talenten und vielversprechendem Potenzial, aber auch mit einem „Fixed Mindset“, die bei den ersten Schwierigkeiten sofort aufgeben.
Beratungstipp: Das Mindset entlarven und in kleine „Wachstums-Schritte“ übersetzen: „Was wäre, wenn du nicht können musst, sondern nur lernen darfst?“
(Quelle: Dweck, C. S. (2006). Mindset: The New Psychology of Success. New York: Random House)
D. Wiederholungszwänge – Wenn sich alte Muster neu inszenieren
Aus der psychodynamischen Perspektive weiß man: Menschen neigen dazu, ungelöste Konflikte aus der Kindheit unbewusst zu wiederholen, auch in neuen Situationen.
Ein Klient, der sich selbst geringschätzt und stets unter Wert verkauft, weil er als Kind nie Lob bekam.
Eine junge Frau, die sich immer „unterordnet“, weil sie gelernt hat: „Ich bin nur gut, wenn ich folge und funktioniere.“
Beratungstipp: Muster erkennen, benennen und unterbrechen, mit behutsamer Gesprächsführung und stabiler Beziehung.
(Quelle: McWilliams, N. (2011). Psychoanalytic Diagnosis. Guilford Press.)
E. Rollenerwartungen – Gesellschaftliche Botschaften als Karrierestopper
Der Rucksack ist nicht nur individuell, sondern auch sozial gepackt. Genderklischees, familiäre Erwartungen, Gesellschaftliche Rollenbilder, schulische Zuschreibungen, all das wirkt mit.
„Ein echter Kerl wird doch kein Sozialarbeiter!“
„Mit Kunst verdient man nichts – mach was Sicheres.“
„Da wirst du es als Frau schwer haben!“
Diese Botschaften wirken häufig unbewusst und verhindern authentische Entscheidungen.
Beratungstipp: Klientinnen und Klienten helfen, diese Botschaften zu identifizieren, zu hinterfragen und durch eigene Perspektiven zu ersetzen.
(Quelle: Eccles, J. S. (1994). Understanding women’s educational and occupational choices. Psychology of Women Quarterly, 18(4), 585–609.)
Mit diesen Erkenntnissen haben Sie einen fundierten, praxisnahen Werkzeugkasten, mit dem Sie Ihre professionelle Beratung noch wirksamer und nachhaltiger gestalten können.
3. Empfehlungen für die Beratungspraxis
Bevor wir in der Beratung also konkret werden, z.B. Berufs- oder Studienvorschläge machen oder Karriereschritte empfehlen, sollten wir prüfen, ob emotionale Altlasten den Weg versperren. Dafür braucht es Sensibilität, professionelle Haltung, und sicher auch den Mut auf beiden Seiten, etwas tiefer einzusteigen.
Wichtige Herangehensweisen dafür sind:
Zuerst Wahrnehmen statt Planen: Wer nicht weiß, woher innere Blockaden stammen, plant mit angezogener Handbremse, stochert im Nebel, tappt im Dunkeln, übersieht und ignoriert vielleicht essentielle Faktoren.
Raum geben für Unsicherheiten: Nicht jede Ratlosigkeit, Unentschlossenheit und Entscheidungsangst ist kognitiv erklärbar, manchmal ist sie emotional und ist Teil des negativen „Rucksacks“.
Keine Angst vor psychologischen Fragen: Es geht selbstverständlich nicht um Therapie, aber sehr wohl um das Sichtbarmachen unbewusster Prägungen, versteckter Botschaften, emotionaler Hürden, Ängste und Blockaden.
Nicht zu früh Lösungen liefern: Sie wissen es längst, liebe Kollegen, aber ich erwähne es der Vollständigkeit trotzdem: Schnellschüsse führen meist nicht zu den richtigen Empfehlungen, wenn wir die oben genannten Umstände außer Acht lassen.
4. Hilfreiche Fragen zur Exploration unbewusster Hürden
Hier einige wissenschaftlich fundierte, in Beratung und Coaching bewährte Fragen, die helfen können, hinderliche Glaubenssätze oder unbewusste Prägungen aufzudecken:
„Was haben wichtige Bezugspersonen (Familie, Freunde, Lehrkräfte, Trainerinnen und Trainer) bisher über deine/Ihre Stärken und Schwächen gesagt?“
→ Erkenntnisse über frühe Zuschreibungen (Schematherapie)
„In welchen Momenten fühlst du dich/fühlen Sie sich nicht ernst genommen oder total missverstanden?“
→ Zugang zu alten Entwertungen und falschen Zuschreibungen
„Wenn du/Sie an deine/Ihre Zukunft denkst/denken – was wäre das Schlimmste, was passieren könnte?“
→ Exploration von Ängsten, „Sabotage“-Szenarien
„Wer in deinem/Ihrem Umfeld würde sich freuen, und wer hätte Bauchschmerzem, wenn du/Sie diesen Weg gehst/gehen?“
→ Systemische Barrieren und Konflikte erkennen
„Wenn du/Sie völlig angstfrei wärst/wären, z.B. vor dem Scheitern, was würdest du/würden Sie dann tun?“
→ Herausarbeiten, erkennen von inneren Konflikten
Es geht überhaupt nicht um ein „Ich sage dir jetzt, wie es ist und was du tun sollst“, sondern um ein beiderseitiges Verstehen, damit tragfähige, nachhaltige Entscheidungen möglich werden. Sie laden die Klientin, den Klienten ein, sich selbst als Akteur und Akteurin zu erleben, nicht als Spielball der Umstände. Im besten Fall haben Sie den Schlüssel zur Gefängniszelle.
5. Der KompetenzCheck next – ein nützliches Diagnosewerkzeug
Gute Diagnostik kann dabei helfen, nicht nur Interessen und Fähigkeiten, sondern auch unbewusste Blockaden und Missverständnisse sichtbar zu machen.
Der von mir entwickelte KompetenzCheck next zielt auch darauf ab: Er verbindet wissenschaftlich fundierte Testverfahren mit pädagogischer Reflexion. Häufig zeigt sich dabei:
Diskrepanz zwischen Selbstbild und Testergebnis
→ Kann ein Hinweis auf falsche Glaubenssätze sein („Ich bin halt nicht kreativ…“)
Starke Unsicherheiten bei eigentlich starken Fähigkeiten
→ Oft Zeichen einer emotionalen Blockade oder negativen Erfahrung
Selbstwertschwankungen trotz objektiv starker Ergebnisse
→ Anlass, frühere Entwertungen und Zuschreibungen zu hinterfragen
Testverfahren sind deshalb die perfekte Grundlage für fundierte Beratung. Sie können Triggerpunkte identifizieren, die dann im Gespräch weiter erkundet werden. Das nenne ich erweiterte, ganzheitliche Selbsterkenntnis.
Zusammenfassung: Erst entrümpeln, dann empfehlen
Wenn wir jungen Menschen oder Erwachsenen wirklich helfen wollen, ihren passenden Weg zu finden, müssen wir mehr fragen, weniger voraussetzen. Nicht jede Blockade ist rational, nicht jedes Zögern irrational, nicht jede Entscheidungsangst ist eine Schwäche, nicht jede Unsicherheit ein Mangel. Aber auch nicht jede Entscheidung ist reif und richtig, nur weil sie gut und selbstbewusst klingt.
Manchmal tragen wir unser Gefängnis selbst mit uns herum. Wem das bewusst ist und wer das erkennt, hat den Schlüssel zur Tür schon in der Hand.
Ihr
Thomas von Krafft
Diplom-Sozialpädagoge, Testentwickler, Talent-Scout
Schreiben Sie mir oder rufen Sie an: tvk@ikobe.de, 0173 – 35 90 314




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